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Freitag, 21. Januar 2000 Heute ist der 21. Tag des Jahres, es folgen noch 345

Der 21. Januar hat folgende kulturhistorische Bedeutung:

Am 21. Januar 1976 um 12.40 Uhr startete am Flughafen Roissy - Charles-de-Gaulle (nahe Paris) ein neues Flugzeug für seinen ersten offiziellen Linienflug nach Rio de Janeiro. Zur selben Zeit hob in London-Heatrhow eine Maschine gleicher Bauart ab, ebenfalls für ihren ersten Linienflug nach Bahrein. Mit dem zeitgleichen Start beider Maschinen sollten 13 Jahre französisch-britischer Zusammenarbeit symbolisiert werden: die Entwicklung des Concorde (frz. concorde & engl. concord = Übereinstimmung, Harmonie), dem ersten und einzigen zivilen Überschall-Flugzeug der Welt.

21. Januar 2000 - Virtuelle Realität...

 

VL, RL... bekannte Abkürzungen für "Virtuelles Leben" und "Reelles Leben"... Wie sieht aber eine Virtuelle Realität aus? Vielleicht gibt folgende Geschichte vom argentinischen Autor Oscar A. Prada, die im Original auf La Página del Idioma Español - The Spanish Language Home-Page nachzulesen ist und für advent-2000.de ins Deutsche übersetzt wurde, Aufschluss darüber...

Virtuelle Realität

Der Kontrolleur des Atomkraftwerks PUNTA MENEM beendete seine 2-Stunden-Schicht ohne nennenswerte Vorkommnisse. Er überließ den Platz vor den Monitoren seiner Ablösung und ging Richtung Umkleideräume. Nachdem er die Ionendusche passiert hatte, entledigte er sich des "Einmal-Overalls" und warf ihn durch die Schleusenklappe in die Recyclingröhre.

Sein Blick streifte über die Reihe von versiegelten Schränken- für den Notfall gab es dort Overalls, Helme und Gasmasken für 30 Arbeiter. Er erinnerte sich dunkel, dass in Kürze wieder die jährliche Übung stattfinden würde, das einzige Mal, an dem an allen Schränken gleichzeitig die Türen geöffnet waren.

Beim Verlassen des Umkleideraumes grüßte ihn die Radioaktivitätskontrolle mit dem grünen Licht und die doppelten Schleusentüren erwiesen ihm ein weiteres Mal die Gnade, ihn aus dem Gebäude nach draußen zu lassen. Niemals passierte etwas in diesem Werk, in dem alles von unzähligen Computersystemen überwacht wurde, deren Programme und Komponenten sich selbst kontrollierten und nichts dem "freien Willen" überließen.

Die Gegenwart eines menschlichen Kontrolleurs war in Wahrheit unnötig, aber so praktizierte es die Internationale Kommission für Atomenergie. Dennoch wussten alle, dass im Angesicht eines Problems, das die Computer nicht zu beherrschen in der Lage wären, der Kontrolleur auch nichts machen könnte. "Aber die Regeln sind dazu da, dass sie eingehalten werden," dachte der Kontrolleur während er in sein Fahrzeug stieg.

Er parkte sein Fahrzeug, eine Art Motorrad, überdacht mit einer Kuppel aus Plexiglas, gegenüber dem Gebäude, in dem er wohnte. Das Rechteck auf dem Straßenbelag, das mit 4 weißen Linien gekennzeichnet war und auf dem er das Motorrad abgestellt hatte, versank nach unten und wurde durch ein leeres Rechteck ersetzt. Das Motorrad wurde neben ähnlichen anderen unterirdisch aufbewahrt.

Der Kontrolleur betrat die Kabine des Fahrstuhls, die ihn automatisch vor die Tür seiner Wohnkabine beförderte. Er konnte nicht sagen, dass er müde war; zwei Stunden am Tag, dreimal die Woche, dabei die Monitore im Kontrollraum vor Augen, das war keine große Anstrengung.

Er fühlte sich eher gelangweilt. Er aß die Essensration, die durch die Lieferschleuse gekommen war und schickte sich an, einige intime Stunden in der virtuellen Realität zu verbringen.

Er setzte sich die VR3D5+- Brille auf, die die Bilder direkt auf seine optischen Nerven projizierte und wählte die Orte aus, die er zu besuchen wünschte; er würde mit 1 Kilometer schwimmen beginnen, dann 10 Kilometer laufen und danach einen Berg besteigen. Nach so viel physischer Anstrengung würde er sich müde fühlen und er würde das Ganze abschließen mit der Teilnahme an einem Konzert in der Royal Albert Hall in London.

Das Schwerkraftfeld um den Mann änderte die subjektive Empfindungslage und ließ ihn einen halben Meter über dem Boden schweben, leicht schwankend, um das Auf und Ab der Wellen zu simulieren. Die Kurzwellensender produzierten auf seiner Haut dieselben Effekte wie der Kontakt mit Wasser, Luft und Sonne.

Die Sensoren und die in seiner Umgebung installierten Kameras übertrugen seine Position und seine Bewegungen an seine Brille, so dass er sich selbst einschätzen und seinen Schwimmstil korrigieren konnte. Elektromagnetische Felder erzeugten den nötigen Widerstand für die Bewegung seiner Arme und das Strampeln seiner Beine, um seine Muskeln anzustrengen.

Als er genau einen Kilometer geschwommen war, änderte sich das in seine Augen projizierte Bild. Er sah sich in einer Menschenmenge stehen, die in ein und dieselbe Richtung lief. Er fühlte das Gestreiftwerden von einem von ihnen und das Geschubse von anderen. Um das zu vermeiden, fing auch er auf dieselbe Weise zu laufen an. Er atmete den Schweiß der anderen, obwohl er nicht wusste, ob das ein Effekt war, den die Kurzwellenantennen erzeugten oder irgendein künstlicher Geruch.

Er erkannte den Ort wieder, durch den er lief: eine der Straßen, die den Central Park in New York umsäumten, als dieser noch existierte. Er hatte ihn in einem Dokumentarfilm über den Marathon in New York gesehen. Jedes Jahr hatte der Marathon in dieser Stadt stattgefunden, damals, als die Geräte der virtuellen Realität noch nicht für alle zugänglich waren.

Nach 10 Kilometern verschwand das Bild von New York und an seiner Stelle sah er sich selbst an einem Seil über einem schneebedeckten Abhang hängen. Die kalte Luft schnitt in seine Gesichtshaut und seine Lippen fühlten sich wie ausgedörrt an.

Er fixierte einen Fels, der aus dem Schnee herausragte und heftete seine Augen auf die kleinen Spitzen seiner Halbstiefel im Eis. Er begann, den Abhang hinaufzuklettern, indem er jeden Muskel seines Körpers betätigte. Wenn er nach unten sah, konnte er ein Schwindelgefühl nicht vermeiden und er konnte einen Schrei nicht unterdrücken, als er das Gleichgewicht verlor und fühlte, wie er ins Leere fiel, obwohl er wusste, dass er nur einige Zentimeter über dem Fußboden schwebte.

Er fiel einige Meter und fühlte, wie die Steine und das Eis seine Knie und Ellenbogen abschabten. Er hing wieder an dem Seil, das ihn sanft in einen Sessel der königlichen Loge in der Royal Albert Hall in Sicherheit brachte.

Das Theater war leer, bis auf die Musiker des Londoner Sinfonie Orchesters, die ein Stück von Tschaikowsky interpretierten, nur für ihn allein. Noch nicht einmal die Königin hatte je dieses Privileg gehabt, allein an diesem Ort sein zu dürfen. Das war, als Schottland, England, Wales und Ulster noch existierten und nicht nur bloße Provinzen der Euroasiatischen Vereinigung waren.

Er versuchte, der Musik für einen Augenblick zu folgen, doch die Müdigkeit übermannte ihn und mitten in einem Adagio überließ er sich dem Schlaf. Die Sensoren des aktiven Cerebrum registrierten die REM- Phase des Kontrolleurs und gaben dem Schwerkraftfeld den Befehl, den Typus zu verändern, damit der Körper sich besser entspannen könne...

Er wachte bei Tagesanbruch wieder auf. Es war nicht nötig, früh aufzustehen, da ja sein freier Tag war. Doch die Angewohnheiten, die seine Vorfahren aus Tradition während 1000en von Jahren kultiviert hatten, hatten auch ihm diesen Rhythmus des Lebens aufgezwungen...

Er fühlte den Körper seiner neben ihm schlafenden Frau, die Wärme ihrer Haut und ihren tiefen Atemzug. Er hatte sie nicht kommen hören, aber es freute ihn, dass sie da war. Er hatte den Wunsch, sie zu küssen, mit ihr zärtlich zu sein. Er erblickte ihren nackten, perfekten Körper, die dunkle, glatte Haut, die festen Brüste und die Triangel ihres Schoßes. Er küsste sie zärtlich und sie erwiderte seinen Kuss mit noch geschlossenen Augen. Sie streckte sich und begrüßte ihn freudig, so, als hätten sie sich lange Zeit nicht gesehen...

Sie überließen sich dem Liebesspiel auf dieselbe Weise, wie es alle ihre Vorfahren getan hatten, seitdem der Mann ein Mann war und die Frau eine Frau...

Erschöpft und zufrieden kamen sie zum Ende und schliefen für einen Augenblick wieder ein.

Als er erwachte, setzte der Kontrolleur die VR3D5+ -Brille ab und ein Empfinden der Verlassenheit überfiel ihn von Neuem, genauso, wie es an jedem Morgen der Fall war...

von Oscar A. Prada



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